Die Entscheidung, Geflüchtete aufzunehmen und potenziellen Notständen und politischen Spannungen in Osteuropa vorzubeugen, könnte durch eine moralische Verpflichtung begründet und sollte letztendlich wegen ihrer menschlichen Größe gewürdigt werden. Allerdings war das tatsächliche Motiv für die Aufnahme ein ökonomischer und politischer Pragmatismus. Das vorherige Jahrzehnt deutscher Politik stand auch niemals im Verdacht sich plötzlichen Impulsen hinzugeben, sondern war stets von kühlem Opportunismus geprägt. Es gibt daher keinen Grund, für die Entscheidung im Spätsommer 2015 andere Motive anzunehmen. Einzig die Singularität der Situation erklärt die Entscheidung und nicht ein Deus ex machina aufgetauchter moralischer Imperativ christlicher Nächstenliebe.
Dieses Ereignis zeigt, dass die politischen Entscheidungsträger von einer Stabilität der momentanen sozio-ökonomischen Verhältnisse ausgehen. Die aktuelle gesellschaftliche Ordnung ist in diesen dominierenden politischen Überlegungen eine unangefochtene Annahme und daher fußt die Politik auf der Prämisse, dass sich zumindest in diesem Jahrhundert keine grundlegenden gesellschaftlichen Änderungen ereignen werden. Nach der Logik, in der wir heute wirtschaften, sollen die Geflüchteten als zusätzliche Arbeitskräfte die Produktivität steigern und dem demographischen Wandel entgegenwirken.
Das Problem daran ist nicht – wie es von Rechts moniert wird – dass die kulturellen Prägungen der Migranten sich vielfach nicht mit unseren decken. Die Unüberwindbarkeit der mit Migration zusammenhängenden Probleme wird widerlegt durch die teilweise schon gelungenen Integrationsprozesse in europäischen Demokratien innerhalb der letzten 30 Jahre, dem amerikanischen Vorbild einer metakulturellen Übereinkunft des vereinzelten Strebens nach Glück (pursuit of happiness, jeder nach seiner Façon) und dem Fakt, dass ziemlich jede Gesellschaft, die heute den Begleitphänomenen kultureller Vielfalt gegenübersteht, sich auch durch Migration und unterschiedliche kulturelle Einflüsse erst konstituiert hat. Kultur ist immer etwas historisch Gewachsenes, niemals eine abgeschlossene ahistorische Entität und deswegen immer einem Wandel ausgesetzt. Dem kann sich die (jeweils undefinierbare) deutsche oder auch europäische Kultur ebensowenig entziehen wie sich die Eingewanderten dem Einfluss westlicher Kultur entziehen können. Diese stehen ja nicht zuletzt dem Einfluss der europäischen Kultur offen gegenüber, weil sie sich – wenngleich unter dem Zwang, zu flüchten – für das Ziel Europa entschieden haben und nicht in den angrenzenden Staaten geblieben sind.
Das Problem ist also nicht eine durch Grundrechte und demokratische Staatlichkeit gesicherte wie auch begrenzte kulturelle Vielfalt. Was die europäischen Demokratien momentan gefährdet, ist vielmehr der Populismus, der von links und rechts vorgibt, die letztgültige richtige Antwort zu besitzen. Damit droht der Populismus über den demokratischen Interessenausgleich hinwegzugehen wie es auch Donald Trump tut, indem er alle Hoffnungen zunichte macht, dass sich seine Wahlkampfversprechen durch institutionelle Gewaltenteilung in einen gesamtgesellschaftlichen Kompromiss einhegen lassen. Zu dieser Schwierigkeit des Populismus kommt die besondere Gefahr des Rechtspopulismus hinzu, der zusätzlich zur Ablehnung der demokratischen Verfahren eine völkische Exklusivität propagiert. Im Unterschied zum Linkspopulismus, der in seinem ebenfalls letztgültigen Wahrheitsanspruch zumindest einen inklusiven Begriff der Bevölkerung hat, spaltet der Rechtspopulismus die Bevölkerung nicht nur politisch in Freund und Feind, sondern auch ethnisch (bzw. in der kulturrassistischen Form, kulturell) in höher- und minderwertig.
Diese Populismen konnten sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht entfalten, da die sozialen Probleme (unsichere Arbeitsverhältnisse, von Gewalt geprägte private Beziehung,…) von einer kulturell homogenen Bevölkerung verdrängt werden konnten. Dieselben Bevölkerungen schaffen es allerdings nicht das Aufbrechen dieser sozialen Probleme zu kompensieren, wenn es Populisten ermöglicht wird, für diese lange bestehenden Probleme mittels rassistischer Ressentiments einen Schuldigen auszumachen. Die Rechtspopulisten sind damit letztendlich Apologeten der bestehenden Ordnung, da sie jegliche realen Probleme (Arbeitsplätze, Gewalt gegenüber Frauen, politische Gewalt,…) einzig Migranten zuschreiben. Dass eine solche Form der Agitation trotz ihrer Absurdität wirken kann, sieht man nicht nur an momentanen Entwicklungen, sondern paradigmatisch im Nationalsozialismus.
Solange die sozialen Probleme nicht angegangen werden, bleibt mit diesen Problemen ein Nährboden für den rechten Populismus. Damit wird die Persistenz des Bestehenden und das politische Dogma, an der bestehenden Ordnung nicht zu zweifeln, erneut zur Gefahr für die europäischen Gesellschaften. Diese Gefahr wird sich nicht bannen lassen und nur immer weiter steigern, wenn kein politischer Wille besteht, die sozio-ökonomische Ordnung in Frage zu stellen und damit die sozialen Probleme selbst anzugehen.